Bei den letzten zwei Sitzungen konnten wir die notwendigen Schlüsse aus der Auffassung des logischen Monismus (Lektion 6) und aus der dialektischen Logik (Lektion 7) ziehen. Wir haben einige ganz wichtige Begriffe für eine aktuelle Vernunftethik entwickelt:
- Der Begriff des absoluten Geistes (Lektion 8), also der Mensch insofern davon bewusst ist, dass er in seiner universellen Vernunft das Absolute ist und sich als solches erkennt. Diese Haltung haben wir, Kant folgend, eine Vernunftreligion genannt (Lektion 9).
- Sie gründet eine neue philosophisch-idealistische Zivilisation (Lektion 10). Diese Zivilisation folgt und ersetzt die monotheistischen Zivilisationen (Judentum, Christentum, Islam) in ihren verschiedenen geographischen Einzelvarianten. Daraus resultiert eine neue, auf Vernunft basierte Weltzivilisation. Die Zivilisation der westlichen Welt, in der wir leben, ist schon eine philosophisch-idealistische Zivilisation, sie gründet sich aber auf dem Verstand (materiell, rechnerisch, egoistisch, ökonomisch ausgerichtet, Profit-Denken fördernd) und nicht auf der Vernunft (ideell, nicht rechnerisch, altruistisch, sozial ausgerichtet, Sozial-Denken fördernd). In der westlichen Welt hat sich die individuelle, formelle Freiheit (Willkür) aber noch nicht die wahre, substantielle Freiheit verwirklicht. Das heißt, dass der Mensch frei ist, und das ist richtig, diese Freiheit ist aber ohne Inhalt, ohne Orientierung, und das ist falsch, da das Leben doch einen Inhalt hat, den wir mit der Vernunft verstehen sollen, um ihn dann zu verwirklichen, um danach zu leben. Die neue Weltzivilisation hebt also nicht nur die monotheistischen Religionen, sondern auch die auf Verstand basierte westliche Zivilisation auf.
- Das ethische Fundament dieser neuen Weltzivilisation soll die gegenseitige Anerkennung zwischen den Menschen sein (Lektion 11). Die Menschen erkennen sich gegenseitig als Absolut an. Sie sind füreinander Zweck und nicht Mittel, Kants 2. Kategorischen Imperativ folgend. Sie dürfen nie als Mittel behandelt werden.
- Daraus entwickelt sich eine ethische Weltgesellschaft, die die drei Hauptwerte der philosophisch-idealistischen Ethik verwirklicht. Diese Werte bilden den Inhalt der Freiheit, also die substantielle Freiheit. Sie sind:
- der Staat als Weltstaat und Weltgemeinde der sich als Zweck gegenseitig anerkennenden Menschen (Lektion 12).
- Die Familie als die Kleingemeinde, in der das neue Menschenleben in der Liebe geschöpft (1. Natur) und erzogen (2. Natur) wird und in der die Menschen nicht nur vernünftig sondern auch gefühlsmäßig miteinander verbunden sind (Lektion 13).
- Die Arbeitswelt als das Netz der Beziehungen unter den Familien und den Individuen einer Gesellschaft (vom Dorf bis zur Weltgesellschaft), in dem die Güter gegenseitig und füreinander produziert werden, die jeder für sein Leben braucht (Arbeitsteilung). Die Arbeit soll somit als Dienst für die Gesellschaft verstanden und gelebt werden (Lektion 14).
- Weltstaat, Familie und Arbeit sind auf der einen Seite die unvermeidlichen Dimensionen, in denen sich das Leben eines jeden Individuums entwickelt, auf der anderen Seite die Werte, die seinem Leben eine sinnvolle Orientierung geben können und sollen. Das Individuum soll den Sinn von seinem Leben in seiner Tätigkeit für den Weltstaat, für die Familie, für die Arbeit sehen und finden können. Indem das Individuum für diese intersubjektiven, auf gegenseitiger Anerkennung fundierten Institutionen lebt, verwirklicht er seinen Geist und ist somit glücklich (Lektion 15). Dafür gibt es selbstverständlich eine logische Erklärung, und zwar das nur indem das Individuum in diesen Institutionen lebt, wird er als Geist anerkannt (als Bürger, als Familienmitglied bzw. als berufstätiger Arbeiter) und dadurch kann er seine natürlichen und notwendigen Bedürfnisse, die ihm zur Materie und zur Natur anketten, in einer freien Art als Kreation (einer Familie, einer Dienstleistung) und nicht nur als Konsumation (Verbrauch) leben.Bei diesen Bedürfnissen handelt es sich um die Zusicherung des Überlebens der Spezies (Reproduktion) sowie des eigenen Überlebens (Assimilation), durch die entsprechenden körperlichen Akten. Bei der Kreation wirkt die Kategorie der wahren Unendlichkeit in uns, wir sind also als Absolutes tätig, wir kreieren, wir schöpfen und somit wir verwirklichen unser vernünftiges Wesen; als reine Konsumenten wirkt in uns dagegen die Kategorie der falschen Unendlichkeit, d. h. wir konsumieren, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, diese aber nach kürzer Zeit wieder entstehen und uns zu einem erneuten Konsum bewegen, und so weiter zig mal ohne etwas Festes, Stabiles zu kreieren, zu schöpfen. Dabei sind wir also nicht kreativ, sondern „konsumativ“, also agieren wir konsumorientiert, nicht „kreationorientiert“, nicht kreativ. Das entspricht aber nicht unserem Wesen, wir sind keine Tiere mehr, die sich nur am Leben zu erhalten brauchen, sondern Menschen, wir haben das Absolute in uns, wir sind schöpferisch und kreativ wie das Absolute und wir sind erst dann zufrieden, wenn wir etwas Vernünftiges, Positives, Beständiges, Sinnvolles zustande gebracht haben. Genau wie das Absolute die Sonne, die Erde, den Himmel usw. geschöpft hat und ständig schöpft, so schöpfen wir Familien, Gesellschaften, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten usw. Auf diese Weise, dank unserer schöpferischen Tätigkeit, geht die Kreation im Universum weiter, zu der Kreation von materiellen Wesen (Planeten, Sternen, Meere, Bäume, Tiere usw.) kommt die Kreation von geistigen Wesen hinzu (Schulen usw.) wie auch die Kreation von Menschen, die beides sind, materielle und vor alle geistige Wesen, da sie eben das Absolute verkörpern.
Somit ist das neue System der Philosophie gegründet und in einer einfachen, von allen Menschen verständlichen Sprache ausgedruckt, vorausgesetzt, dass sie bereit sind, „auf sich die Anstrengung des Begriffs zu nehmen“ (Hegel). Dieses System fördert eine Sozial-Ethik, keine Profit-Ethik. Die Sozial-Ethik führt die Menschen zu einem erfüllten, sinnvollen Leben, da sie anerkennen und anerkannt werden und dadurch als Geist nach der Kategorie der wahren Unendlichkeit leben dürfen. Die Profit-Ethik dagegen führt zu einem unerfüllten, sinnlosen Leben, sie kann zwar zu einer vorübergehenden Sättigung der Bedürfnisse führen, die aber immer wieder und stärker wie vorher entstehen. Damit entsteht eine Kette von Bedürfnissen-Sättigung-neuen Bedürfnissen, die nie endet und den Menschen Knecht macht. Aus Freiheit wird also Knechtschaft! Dabei lebt der Mensch nach der Kategorie der falschen Unendlichkeit und somit als Materie, nicht als Geist.
Schluss
Um zu unserem Hauptthema zurückzukommen, also zu Europa, ist genau diese Sozial-Ethik meines Erachtens das Hauptergebnis der Geschichte der Philosophie, wie sich diese in den philosophischen Systemen von Kant und Hegel niederschlägt. Und die Geschichte der Philosophie fällt zusammen mit der Geschichte Europas! Das Werden der Philosophie ist das Werden Europas! Aus diesem Grund ist die Philosophie als Sozial-Ethik die Identität Europas.
Was nach Hegel passiert ist, Marxismus, Nietzsche, Nihilismus, Imperialismus, zwei Weltkriege usw. bedarf sicherlich einer historischen Erklärung, die ich hier in wenigen Worten nicht geben kann.
Die Zeit ist aber heute reif, damit dem europäischen Einigungsprozess eine philosophische Grundlage gegeben wird, die einzige, die in der Lage wäre, diesen Prozess zu seinem richtigen Ende eines gemeinsamen europäischen philosophischen Staates führen könnte. Dieser europäische Staat, der schon in der Lage gewesen ist, Frieden in seinem Inneren zu schaffen, müsste dann die weitere Aufgabe übernehmen, sich für den Weltfrieden einzusetzen und in den kommenden Jahrhunderten zu einem Weltstaat führen. Damit würde Europa die neue weltweite philosophische Zivilisation stiften, die Kant in seiner Schrift vom 1795 Zum ewigen Frieden entworfen hatte und wovon Hegel dann die philosophischen Grundlinien expliziter dargelegt hat.
Natürlich wird den Menschen in einem hypothetischen europäischen bzw. sogar Weltstaat niemand befehlen, sich für eine Sozial-Ethik und gegen eine Profit-Ethik zu entscheiden. Es ist ihre freie Entscheidung. Wie könnte man dem Absoluten etwas befehlen?
Aber jungen Menschen darf und soll die Philosophie in unserer weitgehend säkula-risierten, oft orientierungslosen Gesellschaft eine Lebensorientierung zeigen und anbieten, die ihnen zu einem erfüllten, sinnvollen Leben führen kann. Das ist die heutige Aufgabe und Pflicht der Philosophie.
In diesem Sinn hoffe ich, trotz aller Schwierigkeiten der Sprache und der geographischen Entfernung, die aber nie eine Entfernung der Geister zwischen uns gewesen ist, diese Aufgabe und diese Pflicht in unserem Seminar erfüllt zu haben. Es war ein wunder-schönes Erlebnis, mit so interessierten, aktiven und geistreichen Teilnehmern diese lebenswichtige Inhalte diskutieren zu dürfen.
Grazie di cuore!
Marco de Angelis